Mission Statement: Wir suchen die Dinge Europas

von Oskar Piegsa

Als ich das erste Mal einen Euro in der Hand hielt, machten sich meine Mitschüler darüber lustig. Es war im Frühjahr 2002, ich war Austauschschüler in der nordamerikanischen Provinz und meine Lehrerin zeigte das neue Geld, das ihr eine Freundin von der anderen Seite des Atlantiks geschickt hatte. Großes Hallo, als sie die Geldscheine in der Klasse herumreichte: Banknoten in bunten Farben, eine größer als die andere, mit Wasserzeichen und Glitzerstreifen? Für Siebzehnjährige, die bisher ausschließlich mit Dollarscheinen bezahlt hatten (alle grün, alle gleich groß, alle alt und labberig) war das ein bisschen zu viel. „This doesn’t even feel like money„, rief Jeffrey durch den Klassenraum, als er die steifen, fabrikneuen Noten in die Hand nahm, „this is, like, toy money!

Rückblickend kommt es mir so vor, als ob ich mich in diesem Moment zum ersten Mal als Europäer fühlte: Als Anhänger eines guten Gedankens, trotz seiner manchmal jämmerlichen Umsetzung. Die Idee zu dem Rechercheprojekt Die Dinge Europas entstand rund zehn Jahre später. Wieder einmal sah es schlecht aus um Europa, doch dieses Mal ging es um mehr als ästhetische Vorbehalte: Das Spielgeld hatte an Wert verloren. Ganze Staaten standen vor dem Ruin. Und von der vielbeschworenen europäischen Solidarität war nicht mehr viel zu spüren („Verkauft doch eure Inseln, ihr Pleite-Griechen“).

Die Einführung der europäischen Verfassung war gescheitert, eine gemeinsame außenpolitische Linie schien nach dem Libyenkrieg in weiter Ferne und während wir uns daran gewöhnt hatten, dass bei Schunkelveranstaltungen wie dem Eurovision Song Contest auch Israel und Georgien mitmachen durften, redete kaum noch jemand von einer baldigen Ausweitung der Europäischen Union über Kroatien hinaus. Eher stellte sich die Frage: Können Griechenland und Zypern in der Eurozone bleiben? Gehört das Ungarn eines Victor Orbán noch zur EU? Wollen Island und die Türkei überhaupt noch mitmachen, will Großbritannien Mitglied im Club bleiben?

Wenn mal jemand flammend an den Geist der europäischen Kultur appellierte, dann eher um Menschen auszugrenzen, als um sie zu gewinnen. Das Abendland musste gegen die Moslems verteidigt werden, so sahen es zumindest die Nationalisten, die in mehreren Ländern an Einfluss gewannen. Dabei zogen zumindest aus Deutschland die gebildeten Kinder türkischer Einwanderer wieder weg, während Tausende Flüchtlinge gar nicht weit genug kamen, ihr Recht auf Asyl geltend zu machen, sondern im Mittelmeer ertranken. Die Grenzen Europas wurden höher und rückten näher, dabei hatten wir sie eigentlich abschaffen wollen.

Claudius Schulze kam mir immer wie ein vorbildlicher Europäer vor. Nach Stationen im politischen Zentrum Europas (Brüssel) und an seinem ungleich aufregenderen geografischen Rand (Istanbul) lebt er nun als Fotograf in Hamburg, wo auch ich als Journalist arbeite. An guten Tagen kann man durchs offene Küchenfenster den Hafen hören. An allen anderen läuft FM4, der Radiosender aus Österreich. Claudius Freundin kommt aus Belgien, kennengelernt haben sie sich in der Türkei, in der gemeinsamen Wohnung wird Englisch gesprochen, manchmal hört man dort auch Deutsch, Flämisch oder Französisch. Hat Claudius aber bei den letzten Europawahlen mit abgestimmt? Keine Ahnung, wir haben nie darüber gesprochen. Unser Europa ist das Europa der Interrailer und des Easy-Jet-Set. Es ist Alltag, aber irgendwie auch egal.

Eines Abends erzählte mir Claudius von Taryn Simons „American Index of the Hidden and Unfamiliar“: Eine New Yorker Fotografin spürt Orte auf, an denen die meisten Amerikaner nie gewesen sind und zeigt Gegenstände, von denen viele nicht mal wissen, dass es sie gibt. Sie zeigt Todeszellen, die Kunst auf den Fluren des CIA-Hauptquartiers, eine Playboy-Ausgabe in Brailleschrift – und erzählt damit eine Geschichte Amerikas. Wir fragten uns: Könnte man das nicht auch für Europa versuchen? Vielleicht mit einem weniger künstlerischem, stärker journalistischem Anspruch?

Wenn Neil MacGregor „Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten“ und hundert erläuternden Essays erzählt, könnte man dann mit einem ähnlichen Fundus nicht auch die Gegenwart Europas schaffen? Könnten wir Dinge finden, die europäische Konfliktlinien veranschaulichen und abstrakte Prozesse nachvollziehbar machen? Und selbst wenn unsere Vorbilder für uns unerreichbar bleiben: Kann man von Europa nicht spannender erzählen als entlang seiner Verträge und Amtsträger? Ohne Weichzeichner, ohne Pathos, ohne große Thesen und ohne noch größere narrative Bögen, sondern so, wie Europa eben ist: kleinteilig, unfertig, vielstimmig, widersprüchlich?

Mit Die Dinge Europas wollen wir das versuchen. Wir beginnen dieses Projekt einigermaßen naiv (siehe oben), größenwahnsinnig (abermals: siehe oben) und frohen Mutes. In den nächsten ein, zwei Jahren werden wir viel reisen, noch mehr lernen und einiges davon in Text und Bild festzuhalten versuchen. Sobald die ersten Schritte getan sind, soll eine Website den Fortschritt unserer Sammlung der Dinge Europas dokumentieren, am Ende ein Kompendium in Text, Bild und vielleicht auch Ton entstehen. Wie weit wir kommen ist ungewiss, das Betastadium wird diese Arbeit wohl nie verlassen, auch darin gleicht sie der EU.

Klar ist: Ohne die Förderung durch das Vocer Innovation Medialab wären Die Dinge Europas wohl eine Schnappsidee geblieben. Wir danken für das Vertrauen. Nach vorbereitenden Gesprächen, Lektüren und einem Testlauf im Hamburger Hafen geht es für uns in dieser Woche richtig los, wir reisen erst nach Dublin, dann nach Rosenheim. Mehr demnächst in diesem Blog. Und Jeffrey, falls Du das lesen kannst: Let’s be friends on Facebook, shall we?

Quelle: Dieser Text ist zuerst erschienen im Blog des Vocer Innovation Medialab, das Die Dinge Europas in der ersten Runde seines Stipendienprogramms aufgenommen und diese Website finanziell ermöglicht hat.

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